Erst kommt das Wachstum, dann die Moral

Von Inge Kloepfer, 29. November 2009

Moralisten haben es im Moment deutlich leichter als die unverbesserlichen Prediger des Wachstums. Seit dem Herbst des vergangenen Jahres, als sich mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers die Krisenanfälligkeit unseres auf Wirtschaftswachstum fokussierten Systems manifestierte, hat Wachstum ein schlechtes Image. Der Wachstumsglaube ist in Verruf geraten und die Marktwirtschaft gleich mit.

Sie ist zwar der Wachstumstreiber, das effizienteste Steuerungsprinzip ökonomischen Handelns, das der Menschheit je in den Sinn kam – jedenfalls dann, wenn es um den Output geht, um seine Mannigfaltigkeit und Menge. Doch wohne der Marktwirtschaft, dieser unerbittlichen Wachstumsmaschine, etwas Zerstörerisches inne, sagen ihre Kritiker. Das durch sie entfachte Wachstum strapaziere die natürlichen Ressourcen weit über deren Regenerationsfähigkeit hinaus und mute dem Globus Schadstoffe zu, die der längst nicht mehr zu absorbieren in der Lage sei. Mehr noch: Wachstum, getrieben von der Aussicht auf mehr Wohlstand, Reichtum – und Macht -, zerstöre nicht nur die Lebensräume, sondern dazu auch noch das Gute im Menschen, seinen Anstand und seine Moral.

Dieser Vorwurf kommt seit einigen Jahrzehnten in Wellen immer wieder, und die Gesellschaft nimmt ihn bereitwillig auf. Derzeit schwimmt die Welt wieder auf so einer Welle, in der Wachstum und Moral als unversöhnliche Antipode erscheinen.

„Diese Betrachtung ist in gefährlicher Weise unvollständig“

„Ich glaube, diese Betrachtung ist in gefährlicher Weise unvollständig“, meint der Harvard-Ökonom Benjamin Friedman. Er wagt einen wirtschaftshistorischen Blick zurück in die Zivilisationsgeschichte der Menschheit und kommt genau zum gegenteiligen Ergebnis: Das Wirtschaftswachstum habe sich über die Jahrhunderte als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Fortschritt erwiesen.

Steigender Wohlstand verbessere nicht nur Lebensumstände der einzelnen Menschen, sondern präge ganze Gesellschaften, sagt Friedman. Wohlstand befördere Toleranz und Offenheit, die soziale Mobilität, demokratisches Denken und damit den moralischen Charakter der Bevölkerung. Nicht Wachstum oder Moral, sondern Moral durch Wachstum – so sieht der Ökonom in seinem Buch „The Moral Consequences of Economic Growth“ die Zusammenhänge: „Wachstum entscheidet über mehr als über Wohlstand und Lebensqualität. Es nützt nicht nur dem Portemonnaie, sondern auch der Moral.“ Dass sich die Moral in Wachstumsphasen verbessert, knüpft Friedman allerdings an eine Bedingung: Der zusätzliche Wohlstand müsse vielen Menschen zugutekommen und nicht nur denen, die es in ihrem Gewinnstreben vorantreiben.

Wenn nun das Wachstum der Moral dient, dann ist auch der Umkehrschluss des Ökonomen logisch: Nicht in den Phasen wirtschaftlichen Wachstums müsse man sich um die Moral der Gesellschaft sorgen, sondern in Zeiten der Stagnation.

Versetzen wir uns ein paar Jahrhunderte zurück und wagen auf holprigem Transportweg eine Reise ins Florenz des 15. Jahrhunderts. Dort bringt es zu jener Zeit Giovanni di Bicci de‘ Medici, der Spross einer eher bürgerlichen Mittelschichtsfamilie, binnen einer Generation zum reichsten Mann der Republik – mit hoch innovativen Bankgeschäften im Dienste des Pontifex maximus. Seine Bank, die Banca dei Medici, die er 1393 in Rom gegründet und deren Hauptsitze er ein paar Jahre später nach Florenz verlegt hat, verfügt binnen kürzester Zeit über ein weitreichendes europäisches Filialnetz. Das Finanzinstitut bildet das Fundament für den Aufstieg der Medici, die die Metropole am Arno über drei Jahrhunderte in Atem halten werden.

Florenz blüht zu dieser Zeit; die Künstler können sich vor Aufträgen der geltungsbedürftigen Medici und anderer Familien nicht retten, Architekten haben Hochkonjunktur und wissen kaum, wo sie die Arbeitskräfte herbekommen sollen, um immer neue Paläste zu errichten. Die Wirtschaft wächst, nicht nur, weil Sippen wie die Medici ihren unermesslichen Reichtum über die Metropole ergießen. Es wird gebaut, gehandelt und finanziert. Der Lebensstandard steigt. Und reichlich Esprit findet sich am Arno ein, die geistige und künstlerische Elite der Zeit.

Cosimo der Alte ist Sohn di Biccis, heimlicher Herrscher von Florenz und Patriot. Ihm liegt – natürlich aus Gründen des eigenen Machterhalts – die wirtschaftliche Prosperität der Stadt noch mehr am Herzen als seinem Vater. Aber er gibt nicht nur Paläste in Auftrag. Nein, 1444 schafft er die Biblioteca Medicea Laurenziana, weltweit die erste, die für jedermann zugänglich ist. Sein humanistisch exzellent ausgebildeter Enkel, Lorenzo der Prächtige, setzt das Werk der Medici fort. Die Stadt, ihre Wirtschaft und Kunst gedeihen weiter. Und bis heute weiß man: Ohne das – alles andere als altruistische – Mäzenatentum der Medici wäre Florenz wohl kaum zum Zentrum der Renaissance geworden, jenes Zeitalters, das den Menschen die Entwicklung hin zu individueller Freiheit ermöglichte.

Handel, Geld, und egoistischer politischer Einfluss

Gerade weil sich das Leben der Medici um Handel, Geld, Investitionen, Rentabilität und ein Höchstmaß an politischer Einflussnahme im egoistischen Sinne drehte, hat es der Florentiner Welt enormen zivilisatorischen Fortschritt gebracht. Dem Wachstum folgte die Moral. „Moral bedeutet mehr als die Beachtung der Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens“, schrieb der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler Edmund Phelps unlängst in dem amerikanischen Journal „First Things“. Es sei nicht mehr und nicht weniger als die Verbesserung der Menschheit. Wer würde den Medici bei all ihrem Gewinn- und Machtstreben genau dies nicht zugestehen?

Die Beobachtung, dass wirtschaftliche Prosperität die Moral einer Gesellschaft über lange Phasen positiv beeinflussen kann, ist übrigens keineswegs eine des 21. Jahrhunderts. Wer jetzt noch einmal einen historischen und geographischen Sprung wagen will, könnte sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzen und sich in die Vereinigten Staaten der 30er Jahre begeben.

1831 hat der französische Politiker, Historiker und Publizist Alexis de Tocqueville mit seinem Freund Gustave de Beaumont ein Schiff nach Amerika bestiegen. Er wollte die Vereinigten Staaten kennenlernen – und war verblüfft. Nicht nur, dass ihm dort eine nahezu klassenlose Gesellschaft zu begegnen schien, die er aus dem alten Europa gar nicht kannte. Vielmehr erstaunte ihn das unverhohlene Streben des Einzelnen nach persönlichem Wohlergehen. „Es ist bemerkenswert, mit welch fieberhaftem Eifer ein jeder seinen eigenen Wohlstand zu mehren sucht“, berichtete er später in seinem Werk „De la démocratie en Amérique“.

Die ökonomische Umtriebigkeit des Einzelnen und die daraus resultierende volkswirtschaftliche Prosperität trieben die Moral in der Gesellschaft voran und beflügelten die Idee der Gleichwertigkeit aller.

Tocqueville beeindruckt die Tugendhaftigkeit dieses Materialismus

Beeindruckt hat den Franzosen Tocqueville dabei vor allem die Tugendhaftigkeit dieses Materialismus, nämlich dass ein jeder seine Chance habe, der Arbeiter genauso wie der Landbesitzer oder Händler. Und dass genau dies wiederum die gesellschaftlichen Einstellungen verändere, neue Ansichten entstehen lasse, neue Gefühle und neue Gepflogenheiten. So wird Tocqueville postum zum Zeugen von Benjamin Friedmans These. Der Franzose bemerkte allerdings später, dass Wohlstandsstreben allein noch keinen guten Bürger mache.

Im Blick zurück über die Jahrhunderte steht außer Frage: Wachstum hat die Welt reicher gemacht und viele Gesellschaften zivilisierter. Wachstum hat Millionen von Menschen die Freiheit gebracht, über sich selbst zu bestimmen, und tut es auch in der neueren Geschichte noch. Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung, diese zivilisatorischen Fortschritte sind – mit Benjamin Friedman gesprochen – die „moralischen Konsequenzen des Wachstums“. Sie sind ohne Wachstum nicht denkbar und treiben es weiter an.

Doch ist dieses Wechselspiel nicht ohne Ambivalenz. Wachstum befördert die Moral und untergräbt sie wieder. Wachstum ist die Grundvoraussetzung für moralischen Fortschritt, aber keineswegs dessen Garant. Wenn die Früchte des Wachstums nur noch wenigen zugutekommen und nicht mehr den breiten Schichten, ist es auch um seine moralische Wirkung geschehen. Meist sind es die Protagonisten des Wachstums selbst, die die Moral am Ende erschüttern. Historische Beispiele gibt es reichlich. Nicht nur im Florenz der Renaissance.

Text: F.A.S.
Bildmaterial: AFP, dpa

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